Psychologie: Was du verpasst, wenn du immer alles sofort googelst
Die Antworten auf viele Fragen haben wir jederzeit griffbereit in der Tasche. Wie sähe unser Leben aus, wenn wir sie öfter dort ließen?
Die Antworten auf viele Fragen haben wir jederzeit griffbereit in der Tasche. Wie sähe unser Leben aus, wenn wir sie öfter dort ließen?
Wie heißt noch dieser Investor in "Die Höhle der Löwen"? Wer hat bei "Titanic" Regie geführt? Was genau bedeutet das Wort "paradox"? Stolpern wir in einem Gespräch – oder in unserem inneren Monolog – über Fragen dieser Art, liegt die Lösung in der Regel nahe: in die Tasche greifen, Smartphone zücken, Browser-App öffnen und geeignete Stichwörter eingeben. Infos zu bekommen, Antworten zu finden, ist dank Firefox, Google und Co. weitaus einfacher, als selbst zu überlegen. Allerdings hat es in meiner Wahrnehmung einen Preis, wenn wir immer alles sofort googeln: Folgende Erfahrungen können wir dann nämlich nicht machen.
Was du verpasst, wenn du immer alles sofort googelst
Gemeinsamkeit und Bindung
Wenden wir unsere Aufmerksamkeit während einer Unterhaltung unserem Handy zu, entziehen wir sie zwangsläufig unserem Gegenüber. Das mag es zwar verkraften und entschuldigen, sofern es eine fehlende Info ebenso gerne wissen möchte wie wir. Trotzdem erzeugen wir durch den Blick aufs Smartphone eine Distanz zwischen uns und stellen somit implizit die Information über ein ungestörtes Miteinander.
Lassen wir das Gerät wiederum in der Tasche, haben wir die Chance auf eine Erfahrung, die uns unserem Gegenüber näher bringt: Wir können zu zweit überlegen. Vielleicht kommen wir zusammen auf die Antwort, haben ein gemeinsames Erfolgserlebnis, spüren, dass wir ein gutes Team sind. Fällt uns die Antwort nicht ein, teilen wir eben unsere Unzulänglichkeit, trösten uns gegenseitig damit, dass wir beide etwas nicht wissen. Falls uns die offene Frage nach unserem Zusammensein weiter beschäftigt und wir sie hinterher klären, können wir wiederum beim nächsten Austausch darauf zurückkommen – auch das kann meines Erachtens eine subtil beziehungsfördernde Wirkung haben, insofern es uns spüren lässt, dass wir Erinnerungen teilen und eine gemeinsame Geschichte haben.
Eine Gelegenheit, mit Unklarheit leben zu üben
Unsicherheit und Unklarheit halten wir als Menschen generell schwer aus – unter anderem deshalb greifen wir auch so gerne zum Smartphone. Doch selbst wenn wir Suchmaschinen und KI weiter optimieren: Es wird immer irgendwelche Fragen geben, die sich nicht eindeutig mit Infos und Fakten beantworten lassen. Die wir aushalten müssen. Bei denen es nicht ums Wissen geht, sondern ums Fühlen oder Vertrauen. Wenn wir immer alles klären, was unser Handy hergibt, verlernen wir mehr und mehr, entspannt und souverän mit Unklarheit zu leben. Wir gewöhnen uns daran, Antworten und Informationen jederzeit zu bekommen. Ich nutze deshalb gerne die eine oder andere Gelegenheit, meine Strategien auszuprobieren und auszubauen, Ungewissheit zu ertragen – dass es mir wirklich hilft, gelassener zu bleiben, kann ich allerdings nur glauben.
Die Chance, Kreativität und Denkvermögen zu entwickeln
Google mag in vielen Situationen den einfachsten und schnellsten Weg bieten, ein Problem zu lösen. Selten ist es der einzige. In vielen Fällen können wir uns mithilfe unserer Kreativität und unseres Wissens Dinge selbst erschließen, die uns interessieren – Beispiel "paradox". Es enthält denselben Hauptbestandteil wie "orthodox". Bei dem weiß ich, dass "dox" so etwas wie Glaube, Meinung, Lehre bedeutet. Daher kann ich mir durch mein Verständnis der Bedeutung von "paradox" erschließen, was "para" hier für eine Funktion haben müsste.
Ist uns eine Information in einem konkreten Moment nun lediglich entfallen, müssen wir meist nur einmal loslassen und später erneut darüber nachdenken – manchmal gelingt es uns nämlich nicht, die gewünschte Nervenverbindung in einem bestimmten Augenblick zu aktivieren, weil wir eine falsche zu fassen haben (mehr dazu in unserem Artikel zum "Dümmel-Effekt").
Statt Google können wir zur Abwechslung bei manchen Gelegenheiten auch einen anderen Menschen fragen – wenn es um gute Restaurants in der Nähe geht, bilden die oft sogar zuverlässigere Quellen.
Brauchen wir eine Information nicht unbedingt sofort und mit minimalem Energieaufwand, kann es sich nach meiner Erfahrung in vielfacher Hinsicht lohnen, anders nach ihr zu suchen als über das Smartphone. Denn Informationen, mit denen ich mehr verbinde als eine schnelle, einfache Google-Suche, kann ich mir in aller Regel auch besser merken.
Nichts gegen technischen Fortschritt
Grundsätzlich bin ich dankbar, in einer Zeit zu leben, in der ich googeln und KI-Tools nutzen kann. Ich sehe viele Vorteile und Freiheiten, die mir heutige Technologien bieten – zum Beispiel, dass ich problemlos zu nahezu jeder beliebigen Adresse gelange und ohne Aufwand immer an Informationen komme, wenn ich sie brauche. Allerdings halte ich es für bedenklich zu vergessen, dass wir nicht für alles Google nutzen müssen. Ich halte es für bedenklich zu vergessen, was wir in uns selbst finden oder im sozialen Miteinander.
Als ich ein Kind war, gab es keine Smartphones. Das Internet habe ich zum ersten Mal in der Oberstufe für ein Referat über Torfmoose für die Schule benutzt. Ich konnte nur daran arbeiteten, wenn niemand in unserem Haushalt telefonierte. Mein Vater und ich hatten ein gemeinsames Ritual: Jede Woche haben wir zusammen ein bestimmtes Rätsel in unserer Fernsehzeitschrift gelöst. Dafür musste man einerseits einiges wissen, andererseits um die Ecke denken. Google hätte dabei sicher geholfen, doch wir haben es nie genutzt. Auch nicht Jahre später, als ich als Erwachsene meine Eltern besuchte und Smartphones für mich längst selbstverständlich waren. Bis heute erinnere ich mich an das Lösungswort des letzten Rätsels, das mein Vater und ich zusammen gemacht haben. Das war im Januar 2017, eine Woche vor seinem Tod.
Ich möchte nicht mehr auf Google verzichten. Aber noch weniger wollte ich auf Momente und Erinnerungen verzichten, die ich ohne Google erlebe.
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