Psychologie: Prokrastination kann ein Symptom von Einsamkeit sein
Viele Menschen haben einen Hang zu prokrastinieren, doch manchmal können tieferliegende Probleme die Ursache dieser Verhaltensweise sein – zum Beispiel Einsamkeit. Wie beides genau miteinander zusammenhängt und wie das Wissen darüber uns helfen kann.

Viele Menschen haben einen Hang zu prokrastinieren, doch manchmal können tieferliegende Probleme die Ursache dieser Verhaltensweise sein – zum Beispiel Einsamkeit. Wie beides genau miteinander zusammenhängt und wie das Wissen darüber uns helfen kann.
Ich öffne das Fach über meinem Einbaukühlschrank. Dort bewahre ich meine Hausapotheke auf. Es ist der Tag, an dem mein neuer Pillenzyklus beginnt. Eine Packung Pflaster fällt mir entgegen und landet auf dem Boden. Ich lasse sie liegen. "Egal, hebe ich später auf", denke ich. Erst Tage danach wird dieses "Später" sein.
Wenn mir so etwas passiert, weiß ich, dass es mir nicht gut geht. Komischerweise realisiere ich nicht, dass ich erschöpft bin, solange es nur ein Gefühl ist. Ich realisiere es nicht beziehungsweise nehme es nicht ernst. Erst wenn ich in meinem Verhalten erkenne: "Das bin doch nicht ich, das will ich nicht sein", begreife ich, dass ich etwas ändern sollte – oder dass ich etwas brauche (Hilfe, Urlaub, Zeit). Deshalb glaube ich: Was wir tun, kann uns manchmal mehr über unser Befinden und unsere psychische Verfassung sagen, als was wir fühlen.
Prokrastination kann viele Ursachen haben
Wenn wir prokrastinieren, können vielfältige Gründe dahinterstecken. Manchmal fürchten wir, dass wir das, was wir zu tun haben, nicht gut machen werden. Manchmal möchten wir lieber Spaß haben oder uns entspannen. Manchmal finden wir keinen Sinn und keine Motivation, manchmal fehlen uns Disziplin oder Energie. Häufiges Prokrastinieren kann ein Hinweis auf eine beginnende (Erschöpfungs-)Depression sein oder eine Reaktion auf Trauer. Und – auch wenn wir das in der Regel nicht sofort damit in Verbindung bringen – Prokrastination kann im Zusammenhang mit Einsamkeit stehen. Klar, werden jetzt vielleicht einige sagen: Einsamkeit zieht uns schließlich herunter und macht träge. Doch ganz so einfach scheint der Zusammenhang gar nicht zu sein.
Studie: Vertrauenspersonen als Cheerleader
Die Ergebnisse einer Studie an knapp 400 Studierenden legen nahe, dass Unterstützung von Familie und Freund:innen das Risiko zu prokrastinieren offenbar senkt. Studierende weisen statistisch gesehen im Vergleich zu anderen sozialen Gruppen eine besonders hohe Gefährdung auf, unverhältnismäßig stark zu prokrastinieren. In der Untersuchung zeigte sich: Testpersonen, die in ihrem Umfeld Menschen hatten, die sie anspornten, ihnen Mut zuredeten, Dinge sagten wie "ich glaube an dich", taten sich tendenziell weniger schwer, Aufgaben anzugehen und zu erledigen als solche, die eher auf sich gestellt waren. Eine Rolle spielte dabei, so vermuten die Forschenden, die Toleranz beziehungsweise Intoleranz von Unsicherheit seitens der Proband:innen: Versagensängste, die gerade im Studium ein häufiger Grund für Prokrastination sind, scheinen sich leichter überwinden zu lassen, wenn andere Menschen Support bieten.
Neben der aktuellen sozialen Situation, in der wir uns befinden, können unsere Vergangenheit und Erfahrungen mit Einsamkeit auf unser Verhalten Einfluss nehmen und uns To-dos vor uns herschieben lassen. Die Psychotherapeutin Katherine Cullen skizziert in einem Artikel für "Psychology Today" das Beispiel einer Person, die als Teenager Ausgrenzung und Mobbing erlebt hat, weil ihre Leistung nicht auf dem Durchschnittsniveau ihrer Klasse lag. Ob im Sportunterricht oder in Mathe. Ob sie unterdurchschnittlich ablieferte oder überdurchschnittlich. Die Person hat in einer prägenden Phase ihres Lebens die Erfahrung gemacht: Wenn ich eine Aufgabe so erledige, wie ich kann, hänseln mich andere und lehnen mich ab. Das muss und sollte sie nicht für immer daran hindern, die Waschmaschine auszuräumen oder Staub zu saugen. Doch es kann in bestimmten Situationen eine Rolle spielen und lähmen, wenn es um To-dos mit einem mehr oder weniger messbaren Ergebnis geht: eine Bewerbung verschicken zum Beispiel. Einen Pitch vorbereiten. Eine Nachricht an eine Person schreiben, von der eine bestimmte Reaktion erwünscht ist.
In ähnlicher Weise, führt Katherine Cullen unter Berufung auf den mittlerweile verstorbenen Psychiater Mark Goulston aus, können prägende positive Erfahrungen aus unserer Kindheit Versagensängsten und Prokrastination entgegenwirken. Am Beispiel des Kleinkindes, das seine Eltern beim Gehenlernen bei jedem gelungenen Schritt positiv bestärkt haben, veranschaulicht die Therapeutin: Uns zu überwinden, etwas Anstrengendes und Beängstigendes zu tun – einen Fuß anzuheben und vor den anderen zu setzen –, können wir aufgrund unserer Prägung als unzweifelhaft richtig empfinden. Unabhängig davon, ob wir hinfallen oder nicht.
Prokrastinieren ist keine Faulheit
Dinge aufzuschieben, ist nicht grundsätzlich schlecht. Manchmal führt es dazu, dass sie sich von selbst erledigen. Manchmal dazu, dass wir uns ihrer zu einem Zeitpunkt annehmen, zu dem es besser passt. Doch oft genug belastet uns prokastinierendes Verhalten, weil wir mit uns herumschleppen, was wir glauben, tun zu müssen. Oft genug verpassen wir Gelegenheiten, weil wir prokrastinieren, oder reiten uns selbst in eine chaotische, kaum noch zu bewältigende Situation. Wenn wir selbst bemerken, dass wir prokrastinieren, kann es sich deshalb für uns lohnen, einmal nachzuhaken und näher hinzuschauen: Was hält mich gerade davon ab? Bin ich einfach nur smart? Oder fehlt mir die Energie? Fehlt mir der Anreiz? Fehlt mir der Sinn? Fehlt mir die Person, die mir zuruft, "mach das jetzt, du kannst es, die Welt wartet auf dich!"? Falls Letzteres der Fall sein sollte: "Die Welt wartet auf dich wie auf uns alle. Also mach das jetzt!"