Sexualisierte Gewalt: Jede fünfte Frau wurde als Kind missbraucht

Sexualisierte Gewalt passiert nicht am Rande der Gesellschaft, sondern überall. Eine neue Studie liefert erschreckende Zahlen und legt nahe, dass jede:r von uns Opfer und Täter kennt. 

Jun 3, 2025 - 17:05
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Sexualisierte Gewalt: Jede fünfte Frau wurde als Kind missbraucht

Sexualisierte Gewalt passiert nicht am Rande der Gesellschaft, sondern überall. Eine neue Studie liefert erschreckende Zahlen und legt nahe, dass jede:r von uns Opfer und Täter kennt. 

Beinahe jede Frau erlebt im Laufe ihres Lebens sexuelle Belästigung, viele sogar sexualisierte Gewalt. Ein Risiko, das ihnen in die Wiege gelegt wird. Zu etwa 90 Prozent sind die Täter Männer, meist aus dem engeren Familienumfeld, die Kinder und Jugendliche manipulieren und ihre Macht missbrauchen. So verwundern die aktuellen Zahlen der Dunkelfeldstudie, die das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) mit dem Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit (DZPG) und weiteren deutschen Forschungseinrichtungen durchgeführt hat, erschreckenderweise kaum. 

Schockierend sind sie dennoch: Den Ergebnissen zur Folge hat jede fünfte Frau und jeder 20. Mann zwischen 18 und 59 Jahren in Deutschland als Kind oder Jugendliche:r sexualisierte Gewalt erlitten. In absoluten Zahlen sind das 5,7 Millionen Menschen, die als Minderjährige missbraucht wurden. 

"Die Ergebnisse weisen auf ein erhebliches Dunkelfeld hin, das im Vergleich zu früheren Untersuchungen nicht abgenommen hat, obwohl das Bewusstsein um die Problematik gewachsen ist und Präventionsmaßnahmen in Deutschland ausgeweitet wurden", sagt Prof. Dr. Harald Dreßing, Koordinator der Studie und Leiter der Forensischen Psychiatrie am ZI. Auf die Frage nach dem Täter oder der Täterin gab ein Großteil der Betroffenen einen männlichen Täter an. Nur 4,5 Prozent der befragten Personen haben sexualisierte Gewalt durch eine Frau erfahren.

Das Perfide: Sexualisierte Gewalt geschieht am häufigsten dort, wo sich Kinder sicher fühlen sollten: zu Hause – im wohlhabenden Elternhaus genauso wie in der Sozialwohnung. Aber auch über den WhatsApp-Chat, im Verein, bei Oma und Opa. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass bis zu einer Million Kinder und Jugendliche in Deutschland bereits sexuelle Gewalt durch Erwachsene erfahren mussten oder erfahren. Das sind rund ein bis zwei Kinder in jeder Schulklasse. Viele dieser Fälle werden nie zur Anzeige gebracht und gehen daher nicht in die Kriminalstatistik ein. Die Zahlen zeigen aber: Statistisch kennt jede:r Betroffene oder war als Minderjährige selbst betroffen und jede:r kennt mindestens einen Täter. 

Sexualisierte Gewalt ist vielfältig

Dabei ist sexualisierte Gewalt so hochgradig individuell und vielfältig, dass Tamara Luding, Referentin der Bundeskoordinierung spezialisierter Fachberatungen (BKSF) gegen Gewalt an Kindern und Jugendlichen auf Anfrage von BRIGITTE erklärt: "Wir könnten hier stundenlang sitzen und über Szenarien sprechen und hätten das Spektrum nicht mal ansatzweise erfasst." 

Denn unter sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen versteht die BKSF gegen Gewalt an Kindern und Jugendlichen "jegliche sexuelle Handlung, die an oder vor Kindern und Jugendlichen gegen deren Willen vorgenommen wird oder der sie aufgrund ihrer körperlichen, seelischen, geistigen oder sprachlichen Unterlegenheit nicht frei und wissentlich zustimmen können. Auch wenn Kinder sexuellen Handlungen zustimmen oder sie initiieren, ist das Gewalt. Täter:innen nutzen ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten des Kindes bzw. des Jugendlichen zu befriedigen. Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen ist immer auch ein Machtmissbrauch. Oft geht sexualisierte Gewalt mit anderen Gewaltformen einher, etwa mit psychischer oder körperlicher Gewalt."

Überlebensstrategien

So unterschiedlich wie die Gewalterfahrungen und die Täter sind, so unterschiedlich sind die Auswirkungen solcher Erlebnisse. "Es gibt nicht das sogenannte Missbrauchssyndrom, also die Symptome, die alle Personen haben, die sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend erlebt haben", so Tamara Luding. "Nicht alle Betroffenen haben schwerwiegende Folgeschäden, aber manche eben schon. Und es gibt eben auch Personen, die diese Gewalt gar nicht überleben, weil sie an den Folgen der Gewalt sterben oder weil sie die Belastung nicht aushalten und sich suizidieren. Das ist die Bandbreite, in der wir uns bewegen." 

In Fachkreisen spreche man daher auch nicht von Symptomen, sondern von Überlebensstrategien. "Das heißt, die Auffälligkeiten, die Personen entwickeln, sind häufig darauf zurückzuführen, was die Personen gebraucht haben, um die Gewalt oder die Folgen davon zu überleben", erklärt die Referentin. Eine solche Überlebensstrategie könne beispielsweise nächtliches Einnässen sein, denn das bedeutet: Bett neu beziehen, Klamotten wechseln, duschen. Unter Umständen verhindert genau das die sexualisierte Gewalt.

Natürlich gibt es dabei auch psychiatrische oder psychologische Diagnosen wie eine posttraumatische Belastungsstörung in all ihren Facetten, dennoch: Durch Diagnosen würde die Zuständigkeit auch gern in unserer Denke an das medizinische Personal abgegeben, während man sich selbst als Privatperson zurücklehnen könne. Doch auch als Privatperson kann man unterstützen und aufgrund der Zahlen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass jede:r eine betroffene Person kennt. "Es ist also genauso wichtig, sich zu fragen, was kann eigentlich ich als Freund:in tun? Was können Familienangehörige tun? Was können Arbeitgeber:innen tun? Wenn so viele Personen betroffen sind, dann müssen wir alle solidarisch sein und helfen."

Wo kann man sich Hilfe suchen?

37 Prozent der Betroffenen geben in der Studie an, noch mit niemandem über ihre Erfahrungen gesprochen zu haben. Aus Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird und aus Scham, sogar aus Schuldgefühlen. Wer niedrigschwellige Hilfe wünscht, kann sich an eine spezialisierte Fachberatungsstelle wenden, empfiehlt Tamara Luding. Die findet man übers Hilfeportal oder übers Hilfetelefon

Die Fachberatungsstellen können vor allem zunächst dabei helfen herauszuarbeiten, was gerade wichtig ist, was die Betroffene braucht und was sie sich wünscht. "Möchte ich, dass meine Geschichte einmal ausgesprochen wird, dass sie mit in die Statistik einfließt, dass sie gehört wird? Oder komme ich vielleicht gerade von der Polizei und habe eine Anzeige erstattet, weil ich so wütend war und weiß jetzt eigentlich gar nicht, wie es weitergeht? Oder habe ich so einen hohen Leidensdruck, dass ich glaube, ich brauche eine Therapie, aber ich weiß gar nicht, ob stationär oder ambulant. Bei all diesen Fragen können spezialisierte Fachberatungsstellen helfen, weil sie häufig eine Lotsenfunktion haben und erstmal beim Sortieren helfen."

Kann man auch Jahre später noch Anzeige erstatten?

Bei einem Großteil der Sexualstraftaten gegen Kinder setzt die Verjährungsfrist erst nach dem 30. Lebensjahr ein. Das heißt, erst dann beginnt die Tat zu verjähren. Wie lange diese Frist andauert, ist von unterschiedlichen Faktoren, unter anderem der Schwere der Tat, abhängig. Hier empfiehlt Tamara Luding sich am besten rechtsanwaltlich beraten zu lassen, ohne dass man dabei direkt etwas lostritt. Denn sobald man bei der Polizei deswegen vorstellig wird, auch wenn man sich nur beraten lassen möchte, ist das mit einer Anzeige gleichzusetzen. Für solche Beratungen gibt es auch Beratungsgutscheine, zum Beispiel beim Weißen Ring. Auch die Beratungsstellen oder das Hilfetelefon vermitteln hier und helfen bei Unsicherheiten weiter.

Tamara Luding, Jahrgang 1977 ist Traumapädagogin, Referentin für den Bereich Vernetzung, Auf- und Ausbau spezialisierter Fachberatung der BKSF – Bundeskoordinierungsstelle spezialisierter Fachberatung zum Thema sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend, Initiatorin und Vorstandsfrau des Vereins "Schutzhöhle e. V. – Verein zur Aufklärung und Prävention von sexuellem Missbrauch an Kindern", Projektkoordinatorin der "Männer*beratung Oberfranken", Mitglied im Betroffenenrat bei der UBSKM, ehemaliger ständiger Gast der Aufarbeitungskommission und Mitglied im Nationalen Rat. Außerdem Gründungsmitglied des bundesweiten Netzwerks von und für Betroffene "aus unserer sicht e.V." und freie Referentin zum Thema sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend.